Dieser Gastblog wurde von Sophie Naumann geschrieben, einer Praktikantin in der Deutschen Nationalbibliothek.
Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe der sächsischen Stadt Zwickau aufgewachsen, in dem mein Vater als Pfarrer tätig war.
Obwohl ich nur drei Jahre nach dem Mauerfall zur Welt gekommen bin, erscheint mir dieses Ereignis heute doch ziemlich weit weg. Für mich ist die Vorstellung, in einem geteilten Deutschland aufzuwachsen, fast schon absurd. So ist es wohl für viele junge Erwachsene meiner Generation schwer, nachzuempfinden, was die Wiedervereinigung tatsächlich für die Menschen, die zum Teil mehrere Jahrzehnte in dem geteilten Deutschland gelebt haben, bedeutete.
Um mir selbst ein Bild davon zu machen, was dieser Mauerfall insbesondere für meine Familie hieß, habe ich meinen Vater gefragt.
Der Mauerfall ist auch für ihn überraschend gekommen. Vorher hatte er schon mit seinem Onkel gesprochen: Dieser lud ihn samt Familie ein, in den Westen überzusiedeln, aber mein Vater antwortete: Wenn jeder Arzt und jeder Pfarrer das Land verlässt, was soll dann werden? Wer kann noch Hoffnung geben?
Und so sind sie geblieben.
Er glaubte zwar, dass die Mauer bald fallen würde, spätestens 1995, wenn die fünfzig Jahre des Warschauer Paktes vorüber gewesen wären – aber stattdessen kamen 1990 schon die Zwei-plus-Vier-Gespräche, die die Freiheit brachten.
Viele Ostdeutsche sind damals über die österreichische Grenze in die BRD gegangen, die Trabanten blieben einfach an der Grenze stehen. Er selbst könnte davon noch viel erzählen, denn im September 1989 war er mit einem Freund im Wohnmobil bis zur griechischen Grenze gefahren, und in Tschechien sind sie den Lastzügen des Deutschen Roten Kreuzes bis an den Balaton gefolgt, wo sie in den Lagern deutsche Zeitgenossen aufgesucht haben, die auf ihre Übersiedlung in den Westen warteten.
Den Mauerfall selbst erlebte mein Vater nachts zuhause vor dem Fernseher.
An diesem 09.11.1989 sah er die Nachrichten, als die Meldung kam, dass die Grenze geöffnet wird: „Ich habe mich unmittelbar vor den Fernseher auf den Fußboden gesetzt und habe einfach lange und gründlich Rotz und Wasser geheult über diese Maueröffnung, vor Freude, weil ich wusste, was dies an Freiheit für uns bedeutet, dass der Eiserne Vorhang fiel.“
Genauere Erinnerungen habe er nicht daran, mich, seine Tochter, gab es damals noch nicht. Aber auch für mich und die kommende Generation bedeutet dieser Mauerfall einen ungemeinen Zuwachs an Freiheit und Selbstbestimmung.
Er erinnert sich nur noch genau daran, wie schwer das wirklich zu glauben war: etwa ein halbes Jahr später, so erzählte er mir, ist er in Westberlin auf dem Kudamm gewesen und als er an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stand, hat er mit den Knöcheln seiner Faust an deren Mauer schaben müssen, bis es weh tat und das Rote zum Vorschein kam, damit er es spüren konnte:
"Die Grenze ist weg – Du bist wirklich auf der anderen Seite – und das gilt jetzt und bis auf Weiteres, dass wir frei sind und Europa ein freies, unideologisches Land im Verbund der Völker ist. Ich bin Europäer, ja mit ganzem Herzen. Und denke kosmopolitisch. Und sollte es einmal als notwendig erachtet werden, diese Freiheit zu verteidigen und für sie zu kämpfen, so bin ich dabei."
Dass dieser Moment meinem Vater nach nun fast einem viertel Jahrhundert noch so präsent sind, zeigt, wie bedeutend die friedliche Revolution immer noch sowohl für die Menschen als auch für die Geschichte ist.
Anlässlich des sich nähernden 25. Jahrestags des Mauerfalls sowie der vorhergehenden Protestbewegung in Ost-Europa setzt die Europeana eine Crowdsourcingkampagne auf. Dazu finden im Mai 2014 auch Aktionstage in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig statt. Im Rahmen dieser haben die Menschen die Möglichkeit ihre persönlichen Geschichten und Erinnerungen an den Mauerfall, sei es in Form von Fotos, Videos, Tonaufnahmen, Briefen oder anderen Dingen, in die Europeana einzustellen und somit dazu beizutragen, ein internationales Archiv zur friedlichen Revolution zu erstellen.
Wenn diese Aktionstage stattfinden, werde ich meinen einjährigen Freiwilligendienst an der Deutschen Nationalbibliothek bereits beendet haben und meine Nachfolgerin wird dort tätig sein. Die hier niedergeschriebenen Erinnerungen meines Vaters werden jedoch nicht verloren gehen.
Dass Geschichte und Erinnerungen erhalten bleiben, ist nicht davon abhängig, dass die Menschen, die sie erlebt haben bleiben, sondern davon, dass sie dokumentiert werden.